Warum ich meinen Job gekündigt habe und nun auf Weltreise mit MS gehe

Ich sitze hier, und ein Unwetter tobt. Es tobt draußen vor dem Fenster – aber noch viel mehr tobt es in mir.

Heute ist es soweit: Der letzte Tag auf Arbeit, der letzte Tag im Büro.

Ich habe es getan. Ich habe gekündigt, ich habe meinen Kram organisiert – und bin ab morgen für ein Jahr auf Weltreise.

 

Auf Weltreise mit MS.

Aber noch viel wichtiger: Weltreise mit mir. Eine Weltreise, eine Reise zu mir, von der ich schon so lange träume. Eine Reise, die so viele Unbekannte für mich bereithält, wie ich sie noch nie in meinem Leben zugelassen habe. Und das größte Abenteuer meines Lebens.

 

Wie mir die Idee zur Weltreise mit MS kam

Es passierte irgendwann zwischen dem Abschluss der Riesterrente und dem Aufsteigen als Agentin für Techno DJs. Irgendwo zischen der neuen Sicherheit, die mir die Anstellung nach der Ausbildung gab, zwischen eigener Wohnung, einem täglich gleich klingelnden Wecker, einer Routine schrie es in mir auf.

Es war ein Schrei, den ich lange unterdrücken konnte. Ein Schrei, der einem so lange das Trommelfell zu zerreißen droht, bis man ihn nicht mehr ignorieren kann.

Ich fragte mich, woher diese Rastlosigkeit in mir kam, diese Unruhe, dieses Gefühl, ständig auf meine Marmeladenseite zu fallen – obwohl doch alles wunderbar war!

Ich war erfolgreich, ich hatte ein gutes Gehalt, eine wunderbare Beziehung und stabile Freundschaften. Nur Multiple Sklerose – die hatte ich noch nicht. Nicht bewusst zumindest.

 

Ich spürte nur diese Unruhe in mir…

Die Diagnose kam, und ein endlos tiefes Loch im Boden tat sich auf. Ein Loch, in dem ich über ein Jahr feststeckte. Und innerlich wuchs der Wunsch nach mehr. Mehr Leben, mehr mitnehmen, mehr Zeit.

Der Wunsch nach „mir selbst“, und zwar im besten Fall ohne Anführungsstriche. Ich selbst. Einfach so. Nur Samira.

Wie ich in diesem Artikel beschrieben habe, war ich nach einem Jahr so weit, die Multiple Sklerose anzunehmen. Ich war bereit, sie nicht nur als miesen Schicksalsschlag zu sehen – sondern auch ein Warnschuss. Als einen Zeitraffereffekt, der meinem kleinen, gemütlich dahin tröpfelndem Stundenglas hinzugefügt wurde.

Ich kann ohne Umschweife sagen, dass die Diagnose mein Leben verbessert hat, wirklich. Warum?

Weil ich endlich wusste, was es war, das mir fehlte. Mir fehlte Zeit, mir fehlte Freiheit. Und so wuchs der Wunsch danach, alles hinzuschmeißen. Alles neu, alles anders zu machen.

Multiple Sklerose Blog
Photo by Eddy Kruse

Plötzlich wusste ich, was ich wollte. Ich wollte eine Weltreise machen. Eine Weltreise mit MS.

Dort war er also, der Traum, und plötzlich hatte er einen Namen. Und ich hatte ein neues Ziel. Eine neue Aufgabe, eine neue Herausforderung. Und einen großen Berg Arbeit vor mir.

Leider ist es mir nicht vergönnt, auf großen Ersparnissen zu sitzen. Ich habe keine reichen Eltern, ich habe kein Erbe und ich habe auch nicht im Lotto gewonnen. Was aber habe ich?

Zwei Hände, die zum Glück meistens auch ganz wunderbar funktionieren. Und einen ziemlichen Dickkopf, der für einen solchen Plan auch nie verkehrt ist.

Ich suchte mir also neben meinem 40-Stunden Job noch eine weitere Arbeit. Unter der Woche saß ich im Büro, und am Wochenende kellnerte ich in einem polnischen Schnellrestaurant. Dazu gesellten sich Aufträge als Barkeeperin und Eventmanagerin.

 

Ich arbeitete. Jede. Einzelne. Stunde.

Ich ging spät ins Bett, ich stand früh auf. Ich verbuchte Künstler, ich dämpfte Piroggen und kratze Essenreste von Tellern. Ich hatte wacklige Beine, ich hatte Schübe. Ich hatte Stress, auch wenn ich weiß dass das nicht gut war. Und doch: Ich wusste, wofür ich das tat.

So vergingen zwei Jahre, in denen ich nebenbei auch noch lernte wie eine Bekloppte, um diesen Blog, den du hier ließt, zu etwas wunderbaren zu machen (sagen wir mal so: Ich arbeite immer noch daran 😉 )

Ich stellte Ansprüche an mich, und natürlich konnte ich diese nicht immer erfüllen. Aber jeder Teller, den ich spülte, jeder unfreundliche Gast, der mir kein Trinkgeld gab machte mich stärker.

Ich finde, dass es sich besser anfühlt, Geld auszugeben, was man selbst verdient hat. Geld, an dem sein eigener Schweiß klebt (im übertragenen Sinne, ähem).

 

„Du machst eine Weltreise mit MS? Das würde ich auch gern mal machen…“

Wie oft ich diesen Satz gehört habe in letzter Zeit? Puh, ziemlich oft auf jeden Fall.

Gleich gefolgt von: „Ich bin echt neidisch – ich wünschte, ich könnte auch einfach ein Jahr reisen!“

Und manchmal frage ich mich dann, was diese Menschen, die das zu mir sagen, daran hindert, ihren Traum zu leben. Dass das nicht kampflos geht, dass einem das nicht zufällt und dass es hart ist – das ist einfach ein Fakt.

Und dennoch weiß ich, dass jeder Mensch das tun kann. Ja, auch du. Und dabei muss es nicht um eine Weltreise mit MS gehen. Dieser eine Traum kann alles sein, und ja, es liegt in deiner Hand – jeder einzelne Schritt (oder Meter mit deinem Rolli).

Kämpfe für deinen Traum. Lerne neue Dinge, spare, erschaffe erreichbare Ziele – sie sind es doch, die das Leben erst lebenswert machen, oder?

Es liegt an uns, aus der Zeit, die wir auf dieser Erde haben, das Beste zu machen.

Weltreise MS

Manchmal braucht es ein erschütterndes Erlebnis, um einem das klar zu machen.

Das war bei mir die Diagnose der MS, das waren die vielen Tränen, die ich um mich selbst geweint habe. Tränen, bis ich nicht mehr konnte. Tränen, die am Ende endlich dazu geführt haben, wo ich heute stehe:

Mein letzter Arbeitstag. Der Ausbruch aus meinem Sicherheitsnetz. Springen, kopfüber, in unbekannte Gewässer. Aber mit Schwimmflügeln.

Schwimmflügel, die ich mir hart erarbeitet habe. Schwimmflügel, die aus einem gut laufenden Blog, einer mich mental unterstützenden Familie und tollen Menschen bestehen, die immer an mich geglaubt haben.

Schwimmflügel, die mir auch mein Arbeitgeber und meine Kollegen gegeben haben, indem sie mich mit so viel Wärme und Vertrauen und Glückwünschen in diese ungewisse Zukunft entlassen, auf meine Weltreise mit MS. Kein böses Blut. Keine Tränen mehr. Naja, vielleicht noch zwei oder drei.

 

Eine Weltreise mit MS, ist das nicht gefährlich?

Sicherlich musste ich etwas mehr planen, als Menschen, die ohne chronische Krankheit in ein solches Abenteuer starten. Aber auch hier nahm ich es sportlich und sah die Herausforderungen eher als Etappenziele denn als Blockaden an. Ich fand, auch aufgrund meiner Erfahrungen mit dem Backpacking mit MS, eine für mich sehr gute Lösung.

Habe ich Angst vor dem was jetzt kommt? Aber hallo! Habe ich Angst vor einem Schub auf Reisen? Manchmal. Aber Angst heißt, dass sich etwas verändert. Also nehme ich sie an, erkenne sie – und lass sie zu meiner Stärke werden. Schritt für Schritt. Zu meiner Streckbank. Zu meiner Leiter. Ich wachse an ihr.

Ich werde nicht während meiner Weltreise mit MS im Rollstuhl landen, da bin ich mir sicher. Einfach so. Ich werde auch danach nicht in der Gosse landen. Das Hamsterrad nimmt einen doch immer wieder mit Kusshand zurück.

Genauso sicher oder unsicher wäre es für mich, hierzubleiben, und mich täglich zu fragen, was gewesen wäre, wenn… Und damit hätte ich noch nicht mal versucht, eine Antwort auf diese essentielle Frage zu finden. Und das würde mich fertig machen.

Ich habe keine Zeit zu verlieren. Das hast du auch nicht, egal ob krank oder nicht. Wir leben jetzt. Und ich werde weiter darum kämpfen, jeden Tag so zu leben, wie ich es für richtig empfinde. Ich möchte mein eigenes, mein bestmögliches Leben leben.

Weil ich es muss. Weil ich das meinem zukünftigen Selbst schuldig bin – und Schuldgefühle stehen definitiv nicht auf dem Plan in den nächsten Monaten.

Word.

mit MS Weltreise

Ich werde dich also in den kommenden Monaten mit in entlegene Gegenden und in Metropolen nehmen, in Urwälder. Ich werde mit dir meditieren und wir werden weiter dafür kämpfen, dass Menschen mit MS genauso Anrecht auf ein spannendes Leben haben wie alle anderen.

Natürlich werde ich wie immer für dich da sein.. Nur mit mehr Vitamin D, mehr Zeit, mehr Kopf. Mehr hier und jetzt.

Das wird groß, und ich brenne darauf, mit dir in dieses Abenteuer zu starten.

Deine Samira

***

Gibt es einen Traum, den du dir unbedingt erfüllen möchtest? Träumst du etwa auch von einer Weltreise mit MS, oder findest du es leichtsinnig von mir, alles hinzuwerfen? Ich bin gespannt, in den Kommentaren von dir zu lesen!

Reisen mit MS

 

 

 

Mindful mit MS
Yoga mit MS

11 comments

  1. Liebe Samira.
    Ich finde es toll dass du diesen Schritt gehst und das du das machst was dir gut tut und deiner Seele. Zeit ist so wichtig und wir sind immer in Eile, Stress und Hektik und wünschen uns eigentlich nur dass der Tag mehr Stunden hätte um auch noch ein paar schöne Dinge darin unter zu bringen. Du gehst für dich den richtigen Weg und ich wünsche dir viel Freude, schöne Erlebnisse uns vor allem dass du Gesund bleibst und dich nicht mit der lästigen MS rum ärgern musst. Fühle dich gedrückt ?
    JULE

  2. Liebe Samira, meinen Glückwunsch zu Deiner Entscheidung und vor allem alles Gute für Deine Reise. Ich freue mich darauf, Dich zu begleiten. Sein eigenes Leben leben – klingt einfach und ist doch so schwer, egal ob mit oder ohne Krankheit.
    Ich habe mich z.B. entschieden, nicht mehr mit meinem Partner zusammenzuwohnen, aber zusammenzubleiben. Und es war richtig, es geht uns beiden viel besser damit.
    Und mit 60 (ich bin jetzt 52) möchte ich nach Norwegen und mit dem Postschiff die atemberaubende Natur erleben. Als Frührentnerin habe ich nicht viel Geld, aber etwas sparen geht, dann noch eine Versicherungssumme, die ausgezahlt wird, und mein Traum wird wahr.
    Mein Leben hat sich durch die MS völlig verändert, keine Karrierefrau mehr, keine 60h Woche im Büro (die mir nichts ausmachten!). Und ich bin glücklich, entspannt, genieße mein neues Leben, freue mich, wenn ich einen schmerzfreie Tag habe. Ein langer Weg mit vielen Rückschlägen liegt hinter mir, bis ich das erreicht habe. Und es wird auch immer wieder Dämpfer geben, aber eines wird nicht passieren – aufgeben!

    1. Liebe Corinna,
      es klingt toll, dass du den Plan hast nach Norwegen zu gehen und dass du deinen Traum verfolgst und nicht aufgibst.
      Ich wünsche dir mit deinen Plänen und deinem Partner nur das Beste!

  3. Liebe Samira,
    ich finde es richtig, dass du deinen Traum verfolgst. Zwei meiner Neffen und eine junge Kollegin haben auch MS. Ich bin gerade dabei selbst zu kündigen, weil es auf meinem Arbeitsplatz nicht auszuhalten ist. Auf Weltreise werde ich nicht gehen aber ich will und muss mich verändern. Viel zu lange war ich vernünftig und habe nicht auf mein Innerstes gehört.

    Ich wünsche dir eine wunderbare Zeit mit vielen tollen Erlebnissen und Glücksgefühlen.

    Liebe Grüße
    Renate

    1. Liebe Renate, das klingt wunderbar! Hut ab vor deinem Mut. Ich kann nur sagen, dass es für mich die bisher beste (wenn vielleicht auch schwerste) Entscheidung meines mittelkurzen Lebens war!!

  4. Hallo Samira, ich bin über Dein Buch auf Deinen Blog gestossen und finde ihn äußerst interessant. Mit Deiner positiven Eistellung gibst Du sicher vielen Betroffenen viel Kraft und Mut, hierfür bewundere ich Dich. Ich hab zwar kein MS, aber eine andere chronische Krankheit, Diabetes Typ 1. Ich finde, viele Tips aus Deinem Blog passen auch für diese Krankheit und ich werde Deinen Blog mit großem Interesse weiter folgen. Ich wünsche Dir alles Gute für Deine Weltreise und bleib wie Du bist.

    1. Hallo Thomas, vielen Dank für dein Feedback! Ich freue mich immer, wenn auch Menschen ohne Erkrankung oder mit einer anderen chronischen Krankheit hier mitlesen. Sei willkommen 🙂

  5. ! Danke !
    Hallo Samira,
    bin ein Hamburger Jung (50), lebe jetzt ca.6 Monate in Berlin und 6 Monate auf Teneriffa im Jahr.
    Lebte früher auch schon mal in Andalusien – war dann in Kolumbien bei einem Arzt, der mit 4 Tabletten half. Ging mir auch viel besser damit, leider nur für 1,5 Jahre. Bei der Wiederholung half diese Therapie nicht mehr…
    Mein Motto: “Ich mach dass was mir gefällt, schönen Gruss an den Rest der Welt !”
    Ich habe erst spät festgestellt, dass ich seit ich ca. 16 bin immer wieder “Sekundenschlaf” habe – Narkolepsie?!
    Aufgefallen ist mir das erst im Rückblick: Immer dann, wenn was passierte, wie ein Unfall in einer Serpentine, bei dem ich mit dem auto gerade mal noch auf zwei Rädern balanciert habe. Oder als ich mit dem Senioren 3-Rad plötzlich im Graben lang.
    Ich erinnere mich, etwa 3-4 Aussetzer pro Jahr gehabt zu haben – vielleicht waren es mehr…
    Das Buch ist bestellt – Lektüre in der Sonne !

      1. Hallo Lars,
        ich weiß nicht genau was du damit meinst… ich Antworte auf alle Fragen, die mir in den Kommentaren gestellt werden, aber ich hatte bei dir keine gelesen.
        Ich freue mich über jeden Kommentar, und natürlich auch über deinen, aber lass uns doch einfach freundlich und sachlich bleiben 🙂 Geld ist sicherlich nice to have, macht aber allein auch nicht glücklich.
        Hab ein sonniges Wochenende
        Deine Samira

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