Diese Frage, ob man auf der Arbeit von seiner MS erzählen soll, hat sich wohl jeder schon einmal gestellt, bei dem die Krankheit diagnostiziert wurde.
Gerade da eine MS ja bei jedem anders verläuft und sich in anderen, mitunter für Außenstehende gar nicht wahrnehmbaren Symptomen äußert, wird der Großteil der Personen in deinem Umfeld eventuell gar nicht merken, dass du MS hast.
Auch bei mir, die ich gerade Schicht für Schicht der Maske herunterreiße – es also mehr und mehr Menschen erzähle – fielen meine Kollegen aus allen Wolken.
„Was, du hast MS? Das habe ich gar nicht gemerkt!“.
Die Krankheit im Arbeitsumfeld zum Thema zu machen, ist sicherlich keine einfache Entscheidung. Soll ich meinen Kollegen von der MS erzählen? Meinem Chef?
Rechtliche Faktoren
Rechtlich gesehen musst du das nämlich nicht, so lange du nicht als Schwerbehindert giltst. Auch bei einem Vorstellungsgespräch gibt es keinen Zwang, dass du von der MS erzählen musst. Nur, wenn die Krankheit deine Arbeit entscheidend beeinflussen würde, musst du von der MS erzählen.
Einen tollen Beitrag mit erklärendem Video hat die DMSG erstellt!
Was das nun für dich heißt?
Die Antwort ist im Grunde einfach (was die Umsetzung leider nicht unbedingt mit einschließt): Du kannst es entscheiden. Du allein. Du musst gar nichts.
Ich selbst habe mich über drei Jahre hinweg sehr schwer damit getan, meinen Kollegen und Chefs von der MS erzählen zu können.
Die Angst vor der Reaktion ist ganz normal!
Ich hatte Angst, dass sie mich danach nicht mehr mit denselben Augen sehen würden. Dass ich für sie vielleicht weniger wert wäre (was für ein Blödsinn), weniger belastbar.
Und diese Ängste sind ja auch nur nachvollziehbar. Wie oft wird hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton über die Krankheit von Leuten gesprochen. Als hätten sie etwas Schlimmes getan, oder irgendwie Schuld an ihrer Erkrankung.
Möchte man selbst die Person sein, über die so geredet wird? Bitte nicht!
Und letztendlich waren es genau diese Bedenken, die mich nach Monaten des Schweigens, des Lügens und des Erfindens von Ausreden dazu brachten, meinen Chefs und meinen Kollegen von meiner Erkrankung zu erzählen.
Denn getuschelt wird meistens nur, wenn es um ein Geheimnis geht.
Gibt deinen Kollegen keinen Grund zu Mutmaßungen!
Je offener man aber selbst mit der Krankheit umgeht, je mehr man zeigt, dass man weiß, dass man nichts verbrochen hat – desto mehr nimmt man der Krankheit das Mystische, das Tabu, das Verschwiegene.
Ich habe es direkt innerhalb weniger Tage allen erzählt. Nicht nur ein oder zwei Personen, denn dann hätte ich ja wieder diesen Tuschel-Effekt gehabt.
Nein, einfach allen. Und ich habe sie dazu ermutigt, auch darüber mit ihren Partnern oder den anderen Kollegen zu sprechen, wenn sie das möchten.
Es hilft den Leuten, zu wissen, dass sie nicht die einzigen sind, die nun bescheid wissen – und dass das Thema gar nichts Geheimnisvolles hat.
Befreie dich selbst von der Last zu lügen
Ich kann dir sagen, dass das von der MS Erzählen sich wie ein Befreiungsschlag angefühlt hat.
Dass mit jeder weiteren Person, der ich es erzählte, eine weitere Schicht der schon vorher erwähnten Maske abbröckelte.
Die Maske, die sagt, dass alles in Ordnung ist, obwohl der halbe Köper taub ist und man vor der Arbeit eine riesige Ladung Kortison reingepumpt bekommen hat.
Die Maske, die dem Arbeitgeber nicht erklären kann, warum sie ständig krank, müde oder antriebslos ist.
Die Maske, die beim Geschäftsessen auf Toilette rennt, um heimlich seine Medikamente zu schlucken.
Schluss, Schluss, Schluss damit!!
Wollte ich mich permanent verstellen, hätte ich vielleicht doch Schauspielerin werden sollen – da hätte man mich für das Theater wenigstens anständig bezahlt 😉
Seit ich meinen Kollegen und Chefs von meiner MS erzählt habe, kann ich wieder viel mehr ich sein.
Und dass die MS nun mal zu mir gehört, das habe ich in den letzten Jahren langsam aber sicher gelernt und angenommen, aber das ist noch mal Stoff für einen ganz eigenen Artikel.
Wenn es mir nun schlecht geht, dann gehe ich früher nach Hause.
Wenn ich ins Krankenhaus muss, dann kann ich offen sagen, warum.
Wenn es mir zu viel wird, wenn meine Augen nach stundenlanger Arbeit am Laptop herumnerven, dann brauch ich nicht viel zu erklären.
Dann stoße ich statt auf Mitleid einfach nur auf Verständnis.
Und das ist es doch, was man sich erhofft: Nicht bemitleidet zu werden. Du brauchst kein Mitleid, ich brauche kein Mitleid. Aber Verständnis, das fühlt sich gut an. Das fühlt sich aufrichtig an – und ehrlich.
Auch wenn ich dazu mehrere Jahre gebraucht habe, bin ich nun so, so froh mich nicht mehr verstecken zu müssen.
Die Wahrheit wird immer die gleiche bleiben, und du entscheidest, wie du mir ihr umgehst. Ich freue mich, wenn du allen anderen Menschen mit MS – und natürlich auch dir selbst – bei der „Enttabuisierung“ der Krankheit hilfst.
Ich kann zu dem Thema auch sehr die Seite “Schubweise” empfehlen – hier wird ein toller, offener Umgang mit MS gepflegt. Super!!
Und der erste Schritt dazu ist zwar mutig, aber auch wichtig.
Weihe dein Umfeld ein!
Nicht, bevor du selbst nicht dazu bereit bist natürlich. Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Es drängt dich ja keiner!
Wenn du aber merkst, dass das Lügen dich fast mehr belastet als die Krankheit an sich, dann raus mit der Sprache – du wirst dich wundern, was für ein geniales Gefühl es ist, endlich den Stöpsel zu ziehen und sich Luft zu machen.
Ich drück dir die Daumen!!
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Hast du deinen Kollegen von deiner Erkrankung erzählt? Wie haben sie darauf reagiert? Ich bin gespannt in den Kommentaren von deinen Erfahrungen zu lesen!
Hallo Samira!
Ich bin immer noch total baff von deinem Blog! Ich finde ihn wahnsinnig schön und liebevoll gestaltet und es tut so gut so ehrliche Worte zur MS zu lesen. Die Diagnose haut einen um! Und es ist leicht sich in der Zeit danach in negativen Gedanken fast zu ersticken. ABER: Es ist auch möglich diese wieder unter Kontrolle zu bekommen (evtl. mit Hilfe der Familie/von Freunden/einer Therapie) und sein Leben wieder zu genießen! Und mittlerweile glaube ich fest daran, dass ich das auch weiterhin können werde! 🙂
Mich beschäftigt in letzter Zeit vor allem das Thema offener Umgang mit der Erkrankung vs. Verschweigen. Ich muss nicht so sehr viele Notlügen erfinden, weil ich (zum Glück!) kaum Einschränkungen habe, aber irgendwie drängt es mich immer mehr, dass ich die Katze aus dem Sack lassen will, weil es mich nervt um den heißen Brei zu reden! Aber ich möchte auf gar keinen Fall meinen Arbeitsplatz gefährden (bin nur befristet angestellt) und halte deshalb noch größtenteils die MS geheim. Ich hasse es aber. Weil du total recht hast. Es ist schon unfair genug, dass wir dieses Los gezogen haben! Wieso müssen wir jetzt auch noch dafür sorgen, dass es keiner erfährt?
Ich finde dich total mutig, dass du den Weg der Offenheit gewählt hast! Und ich danke dir dafür, dass du zu einem positiven Eindruck von MS-Betroffenen beiträgst! 🙂 Ich habe mal beim Zahnarzt erwähnt, dass ich MS habe und die Zahnärztin sagte etwas wie: “Oh, dafür sind Sie aber… Naja, also… Andere MS-Erkrankte sind da aber viel selbstmitleidiger. Da muss man immer etwas aufpassen…” 🙁
Hey,
Ich kann mir gut vorstellen dass es dich auch belastet, nicht offen mit einer Krankheit umgehen zu können in deinem Arbeitsumfeld. Und doch kann ich verstehen, dass man manchmal lieber etwas vorsichtiger ist mit der Bekanntgabe seiner Krankheit.
Ich denke man muss da abwägen was einem wichtiger ist – sich selbst den Ballast zu nehmen oder einfach nicht aufzufallen bei seinem Arbeitgeber. Es hat beides seine Vorteile.
Vielen Dank für das tolle Feedback! Mir ist einfach wichtig zu zeigen, dass MS nun Mal wirklich unzählige Gesichter haben kann! Die meisten Erkrankten wissen das, aber bei den “Ahnungslosen” ( 😉 ) herrscht immernoch das eine Bild vor…
Ich Wünsche dir alles gute!
Hallo,
Ich arbeite seit 23 Jahren im Rettungsdienst und die Diagnose MS wurde bei mir während eines Auslandeinsatzes mit der Bundeswehr gestellt. Das war vor 18 Jahren. Ich habe immer versucht, offen meinem Umfeld gegenüber zu sein und auch zu sagen das ich MS habe. Das Ergebniss war, es hat sich kaum einer dafür interessiert. Wurde als gegeben hingenommen. Aber für mich war es gut, den wie schon gesagt wurde, ich muß mich nicht verstecken. Es macht mir keiner einen Vorwurf wenn ich mal nicht mehr körperlich kann. Ich denke man darf sich nicht verstecken. Wir haben uns unsere Krankheit nicht ausgesucht und ansteckend sind wir auch nicht. Also warum nicht erzählen? Traut euch… Es kann euch helfen wieder ein Stück, ein normales, selbstbestimmtes Leben zu führen.
Falls sich jemand über die Jahresangaben wundert, ich hab vor 23 Jahren über die Bundeswehr mit dem Rettungsdienst begonnen.
Hi Samira, ich bin heute zum ersten mal auf deinem Blog. Und ich kann dem Beitrag nur zustimmen (ist der erste, den ich gelesen habe). Ich habe lange nichts über meine Krankheit gesagt. Nur ausgewählte Kollegen wussten davon. Es ist schwierig zu sagen, was passiert wäre, hätte ich es meinen damaligen Chefs erzählt. Ich denke mal, dass das Arbeitsverhältnis gestört wäre. Als Ingenieur in der Produktion waren meine Gleichgewichtsprobleme bei rotierenden Teilen, Fräsen und Robotern ein klein wenig hinderlich. Jedenfalls denke ich nicht, dass meine damaligen Chefs sehr kulant gewesen wären. Hätte hätte Fahrradkette, mein jetziger wusste von Anfang an alles und ihm ist es egal. Das Ergebnis muss stimmen.
Von daher denke ich, dass man vorher genaustens schauen sollte, wen man als Chef vor sich hat und was die Beschreibung der eigenen Arbeitsstelle ist.
Ich habe auch das Video der DMSG gesehen. Dazu würde ich sagen: Da Hat einer über einen gesprochen, den er nicht kennt und die auch nicht sich mit dem Thema befasst haben. Als studierter Ingenieur hört man von dem großen A nur “Sie können sich in ganz Deutschland bewerben und sind allumfassend ausgebildet. Sie können doch alles, bli, bla, blub. Ich hänge bereits seit 3 Jahren in dem Hamsterrad, deswegen der Sarkasmus, entschuldigung. Und deshalb nehme ich mein Glück selbst in die Hand und arbeite gerade in einer Entwickler-Agentur.
Also mein Feedback wäre: “Ich unterschreibe den ganzen Beitrag und schreibe ein dickes “ja” darunter und möchte auf den Spruch hinweisen – Man prüfe, bevor man sich ewig bindet”