Kennst du den Spruch: „Machen ist wie wollen – nur krasser?“
Jahrelang war das mein Leitspruch. Während andere wollten, machte ich. Ich arbeitete wie eine Besessene, ich hatte manchmal fünf Jobs gleichzeitig. Alles musste gemacht werden, und alles musste dabei natürlich auch noch perfekt sein.
War es das nicht, brach die Welt ein kleines bisschen zusammen, auch wenn man mir das von außen sicherlich nie anmerkte. Ein mich vergiftender Perfektionismus, ein Anspruch an mich, an die Dinge die ich Tat, an mein Aussehen und meine Figur, dem ich niemals gerecht werden würde. Und dennoch versuchte ich es.
Und ich glaube – ich mutmaße jetzt einfach mal – dass du dich in einer oder gar mehreren dieser Ansprüche an dich wiederkennst. Wir beide, du und ich, wir haben nämlich etwas gemeinsam (außer unseren „lieben Freundin“ MS): Irgendwann in unserem Leben haben wir uns selbst weißgemacht, dass wir perfekt sein müssen. Und deswegen haben wir ein Problem.
Das Leben mit MS hat bei mir irgendwann dazu geführt, dass ich andere Wege einschlagen musste.
Ich hatte keine Wahl mehr – ich musste mich verändern, das begann erst so zwei Jahre nach der Diagnose MS. Ich musste meinen Umgang mit mir selbst verändern. Musste lernen, mich so zu akzeptieren, wie ich bin – und dass das nicht nur ein schlauer Spruch auf einer Postkarte ist sondern der einzig wahre Job, der wirklich all meine Kraft wert ist. DAS ist der wichtige Job. Die Arbeit an mir selbst ist die Arbeit, die seitdem Priorität hat.
Also klar, ich gehe natürlich noch arbeiten (auch wenn ja immer mal wieder das Gerücht umgeht, mein Geld wachse an Bäumen – sollte das mal eintreten, dann schmeiß ich ne Runde und lade dich ein, versprochen!).
Aber es lässt sich auch arbeiten, ohne immer die letzte im Büro zu sein. Es lässt sich Leben, ohne dass die Wohnung immer picobello sauber ist. Es lässt sich ein Termin absagen, wenn man nicht mehr kann.
Da geht die Welt nicht von unter. Ehrlich jetzt, sonst hätte ich das uns allen schon gründlich vermasselt, so oft wie schon was abgesagt habe!
Und bei all diesen Absagen, in all diesen Momenten in denen ich mich dazu entschied, STOP zu machen und mir HIER UND JETZT eine Pause zu gönnen, die ich verdammt noch mal nicht nur verdiene sondern einfach auch unglaublich dringend brauche, fiel mir eines auf: Das kann man üben. Und es Tut. So. Unendlich. GUT!
Stop zu sagen, Dinge zu verschieben oder zu verlegen oder halt eben auch abzusagen ist mein größter Liebesbeweis an mich selbst geworden.
Ich kann aufhören, Angst vor dem zu haben, was ich mir mit meinem überhöhten Perfektionismus selbst antue. Ich kann endlich Vertrauen in mich selbst entwickeln. Selbst-vertrauen, so richtiges, echtes. Eines, das sich nach innen richtet, das direkt in mein Herz geht und meine Seele umarmt. Ich habe keine Angst mehr vor Macher-Samira. Denn wir verstehen uns mittlerweile prächtig. Manchmal heult sie sich noch bei der Gegenwartssamira aus. Manchmal, wenn so viel wollen da ist, und einfach nichts mehr geht.
Würde ich gerne wie früher 14-Stunden-Schichten auf dem Festival rocken? Klar ey!
Würde ich gern die Nacht durchmachen und morgens direkt in den Zug zum Geschäftsmeeting in einer anderen Stadt fahren? Logo! Würde ich nach einem Hammertag auf Arbeit gern noch meinen Nachbarn beim Schrank aufbauen helfen? Ehrensache. Aber weist du was: Is halt manchmal einfach nicht. Und im Gegensatz zu einem Menschen ohne chronische Krankheit habe ich manchmal auch nicht die Möglichkeit, das alles trotzdem durchzuziehen und muss deswegen vorbeugend schon nein sagen (oder dann halt absagen, wenn ich zu leichtsinnig mit meiner Energie umgegangen bin).
Denn die Quittung für meinen Perfektionismus, für mein Durchziehen ohne Sinn und Verstand bekomme ich meist postwendend. Ich muss nicht mal nach ihr fragen.
Wenn ich weniger als sechs Stunden schlafe, wache ich als halber Mensch auf. Kenn ich bereits. Immerhin weiß ich es mittlerweile und es überrascht mich nicht mehr.
Stell dir vor, jemand teilt deine linke Körperhälfte ab, spritzt dir da ein Betäubungsmittel rein – aber nur so viel, dass du dich nach außen hin noch perfekt bewegen kannst. Er setzt dich dann wieder zusammen, gibt dir vier Shots Vodka, dreht dich zwanzig mal im Kreis, klopft dir auf die Schulter und sagt „na dann leg mal los“. Dann bist du ungefähr da, wo ich lande, wenn ich zu wenig schlafe. Näh. Extrem ungeil (Ein Shot Vodka mag ab und an seinen Reiz haben, aber sicherlich nicht, wenn ein anstrengender Arbeitstag vor dir liegt).
Das geht auch wieder vorbei, ja – nach einem oder zwei Tagen ist bei mir wieder Ruhe, und das hat auch nichts mit einem Schub zu tun, sondern ist einfach eine temporäre Verschlechterung, aber ES NERVT.
Viele Menschen mit MS leiden unter der so genannten Fatigue, einer chronischen, lähmenden, erstickenden Erschöpfung, die mit „ich bin auch voll müde“ so viel zutun hat wie eine Knallerbse mit Berlin an Silvester. Fatigue ist HART. Fatigue ist SCHEISSE. Fatigue sieht man meist nicht, obwohl bei mir dann einfach das ganze Gesicht herunterhängt und die Sprache verlangsamt ist.
In diesem Stadium ist man bereit, sich jetzt, hier und sofort in Fötusstellung auf den Boden zu legen und einzuschlafen. Egal wo man ist. Egal zu welcher Uhrzeit oder was die anderen grad alles so von einem wollen. Fatigue ist REAL.
Was also kannst du tun, wenn du unter Taubheitsgefühlen, Schwindel, Fatigue oder einem anderen deiner Symptome gerade extrem leidest, aber eigentlich noch voll viel zutun hast?
Ich verrate es dir, und es wird dich vielleicht böse machen, weil es so einfach klingt und dabei so schwer umzusetzen ist.
(Also mental, denn der tatsächliche Part kostet meist nur einen Anruf und ein paar Minuten deiner Zeit). Achtung, los gehts:
Du kannst dir selbst deine beste Freundin sein, deine eigene große Schwester, deine liebende Mutter (respektive Freund, Bruder, Vater), und du kannst lernen zu verinnerlichen, dass du um genau zu sein EINEN SCHEISS MUSST.
Du musst nicht zum Grillen mit deinen Nachbarn wenn du nicht mal mehr geradeaus schauen kannst. Du musst heute nicht ins Fitnessstudio, wenn deine Beine Pudding sind. Du musst dich heute nicht ins Büro schleppen, wenn draußen 40 Grad herrschen und deine MS Symptome dank Uhthoff aufflackern wie die Waldbrände in Brandenburg. Nein, du musst nicht.
Du bist krank, und das einzige was du musst, ist liebevoll mit dir selbst umgehen. That’s it.
Sag nein. Sag ab. Verschiebe. Schalte dich beim Meeting mit Skype dazu während du im Bett liegen kannst oder telefoniere, statt deinen Kunden persönlich zu treffen. Handle so, dass du dir selbst wieder vertrauen kannst. Denn nur dann wirst du langfristig so leben, dass du deine MS nicht jedes Mal in den Himmel peitschst – wofür sie dir eventuell mit einem Schub dankt. Muss echt nicht sein.
Nichts ist wichtiger als deine Gesundheit. DAS ist deine größte Verantwortung. Nur als (halbwegs) gesunder, ausgeglichener Menschen bist du letztendlich auch dazu fähig, anderen zu geben. Auf einem ausgelaugten Boden wachsen keine Blumen. Ein vertrockneter Baum trägt keine Früchte.
Und wenn du dir einen Grund gibst, dir selbst wieder mehr zu Vertrauen, passiert noch etwas anderes:
Du wirst lernen abzuschätzen, wann es sich lohnt, etwas durchzuziehen. Denn natürlich sag ich hier nicht, dass du dich jetzt nur noch ins Bett legen sollst. Dieser Artikel richtet sich also vor allem an meine vielen Fleissmäuschen da draußen, die sich wie ich ganz gern mal besinnungslos schuften. Und dann noch zwei Stunden ins Fitnessstudio gehen. Und die heute einen 500-Kalorien Tag haben.
Du kannst nur lernen abzuwägen, was richtig und was falsch für deinen wunderbaren Köper und deinen emsigen Geist ist, wenn du beides mal ausprobierst. Wenn du dich selbst weder in die eine, noch in die andere Richtung verarschst. Und ich verrate dir noch was: Das ist das beste, schönste, wärmste Gefühl überhaupt.
Und, probierst du es mal aus?
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Hast du gelernt, dir selbst wieder zu vertrauen? Fällt es dir generell eher schwer dich zu motivieren oder ist dieser Artikel genau das, was du brauchst, weil du dir immer viel zu viel auflädst? Erzähl mir deine ganz eigene Geschichte in einem Kommentar <3
Hallo Samira, soeben habe ich auch das zweite Deiner Bücher verschlungen, liege im Schatten beim Versuch genau das zu tun was Du in diesem Blog beschreibst und sinniere über meine Zukunft. Du beschreibst in so vielem genau meine Situation, dass es schon fast unheimlich wird. Und regst dabei in mir zu unglaublich viel Nachdenken an. Wie gerne würde ich wie Du den Mut haben, einen Cut zu machen, alle ollen Gewohnheiten und “das ist nunmal so” oder “das habe ich mir schliesslich hart erarbeitet” ab zu werfen und nochmals frisch starten und spüren können was mir gut tut… Ich hoffe ganz fest, die Kraft und den Mut zu finden genau das zu tun! Auch Dir natürlich weiterhin gNz viel Kraft auf Deinem Weg- wo auch immer auf der Welt Du gerade bist! Ganz liebe Grüsse, Franziska
Ich danke dir von Herzen liebe Franziska und wünsche dir, dass du den Mut findest, deinen ganz eigenen Weg zu gehen. Es macht kurz Angst – und dann bricht ein so großer Damm, dass man gar nicht weiß wohin mit sich vor Aufregung und Freude. Auch wenn es nicht immer leicht ist, auch wenn gute Phasen und schlechte Phasen sich abwechseln, auch wenn ich genau wie du manchmal zweifle: Ich glaube, es lohnt sich, diesen Weg zu gehen.
Deine Samira
Liebe Samira,
danke für deine ehrlichen und ganz wunderbaren, zutreffenden Worte!
Ohje, wie schwer es mir fällt, für mich einzustehen, mal NEIN zu sagen, mich nicht zu rechtfertigen (auch vor mir selbst) und mal wirklich nicht die letzte im Büro zu sein (ich bin natürlich auch die erste hier). Ohje, und dann kann ich meinen Sport nicht mehr so machen, wie es früher der Fall war – immer dieser schreckliche Vergleich mit früher. Das macht mich manchmal echt fertig. Aber hey, jetzt mache ich Yoga und habe mit Klettern angefangen und das tut gut, ist was Neues und klar, klappt nicht immer alles; aber es hilft mir, lässt die MS für eine Zeit verfliegen … Es gibt Tage, an denen klappt es ganz gut und ich bin dann mega stolz auf mich! Und wie gut es tut, sich mal was Gutes zu gönnen! 🙂
Ich glaube daran, dass das alles schon wird, und zwar gut!
Allerliebste Grüße,
Aylin