Der ZDF-Balanceakt, einen Spielfilm über Multiple Sklerose zu drehen, spiegelt ein diskursives Problem
Titelbild by Sebastian Voortman via pexels.com
Dies ist ein Gastartikel von Vera K. Kostial, für deren Meinung und Beitrag ich mich bedanke.
Den Film kannst du dir hier in der Mediathek des ZDF ansehen.
Am Ende freundet sie sich dann doch mit dem Rollstuhl an.
Marie, gespielt von Julia Koschitz in der neuen ZDF-Produktion Balanceakt (2019), wird zu Beginn des Films mit der Diagnose MS konfrontiert. Und der Film macht Vieles richtig – sich überhaupt des Themas Multiple Sklerose anzunehmen und dies in einer Geschichte ganz realweltlicher Probleme zu erzählen – aber am Ende doch so viel falsch, dass er geradezu symptomatisch für ein diskursives Problem in der medialen Darstellung und Rezeption von Krankheit steht.
Verzerrung und Verklärung treffen hier aufeinander.
Verzerrt wird der Krankheitsverlauf an sich: Jeder MS-Verlauf ist anders, jeder MS-Verlauf ist unvorhersehbar. Dass eine im Jahr 2019 neu diagnostizierte Patientin aber innerhalb weniger Wochen oder Monate (dies benennt der Film nicht – da Maries etwa zehnjähriger Sohn allerdings nicht sichtbar altert, kann der Film maximal einige Monate umspannen) so ziemlich alle Symptome erleidet, die man auf einschlägigen Listen findet, diese sich bis zur Notwendigkeit des Rollstuhls verschlechtern und sie gleichzeitig weiterhin lediglich mit Interferon-Spritzen und gelegentlichen Kortison-Infusionen behandelt wird – das ist medizinisch einigermaßen unwahrscheinlich.
Natürlich muss ein Spielfilm medizinische Zusammenhänge nicht ins kleinste Detail abbilden. Natürlich darf und soll ein Spielfilm zuspitzen, straffen, übertreiben, damit eine dynamische Handlung entsteht. Und diese enthält durchaus klug gewählte Konflikte: das Mobbing, dem der Sohn in der Schule wegen seiner kranken Mutter ausgesetzt ist; die Unklarheit, ob Marie trotz ihrer motorischen Ausfallerscheinungen weiterhin als Architektin arbeiten und somit maßgeblich zum Einkommen der Familie beitragen kann; die Beziehungskonflikte aufgrund der psychischen Belastung. Problematisch ist, dass diese Konflikte nicht zu Ende gedacht, nicht ausdiskutiert oder weiter zugespitzt werden, sondern sich in kitschigen Bildern ins Nichts auflösen.
Nicht nur in oben genannter Sternenhimmelszene, in der Marie zwar vollkommen unvermittelt ihre Angst vor dem Rollstuhl überwinden kann, aber mit keinem Wort gefragt wird, inwiefern sie als mobilitätseingeschränkte Person ihren Beruf tatsächlich und ganz konkret weiter ausüben kann. Sondern auch in der dann wirklich letzten Szene, in der die vormals sportbegeisterte Marie zufrieden und dekorativ auf der Picknickdecke liegend nur noch zuschauen kann, wie Vater und Sohn eine Klettertour machen: Das Familienglück ist wiederhergestellt, aber was ist mit dem Mobbing in der Schule? Der finanziellen Situation? Den Konflikten mit Maries Eltern? Dem barrierefreien Umbau (wer finanziert diesen eigentlich)?
Es sind gerade diese ganz konkreten, pragmatischen und leider so gar nicht gut dramatisch erzählbaren Fragen, die für MS-Betroffene bisweilen schwerer auszuhalten sind als ein Krankheitsschub.
Die körperliche Behinderung, von der der Film erzählt und die dank neuer Therapien gerade bei jüngeren MS-Betroffenen häufig nur noch in geringem oder zumindest weniger schwerem Maße auftritt, ist also nur die eine Seite der Medaille.
Die andere Seite – Arbeit, Geld, Selbst- und Fremdwahrnehmung, medikamentöse Nebenwirkungen, langanhaltende psychische Probleme für Betroffene, Angehörige und Kinder – löst sich in Wohlgefallen auf der Picknickdecke auf.
Solche Auslassungen aber sind hochproblematisch, prägen Filme wie Balanceakt doch sehr stark die Wahrnehmung von MS in der Gesellschaft. Und diese Wahrnehmung ist dann eine von rapide zunehmender körperlicher Behinderung, die die gesamte Aufmerksamkeit der Betroffenen einfordert. Der kaputte Körper bestimmt alles. Wer einen MS-kranken Körper hat, kann froh sein, wenn er wenigstens noch zuschauen kann beim Klettern. Und Sterne gucken.
Stärke, Gestaltungsvermögen und die Fähigkeit, einen Beruf – trotz körperlicher Einschränkungen! – ganz normal ausüben und auch in anderen Lebensbereichen ‚normal‘ agieren zu können, passen dann nicht mehr ins Bild.
Ein kurzer Realitätsabgleich ergibt, dass das – zumindest so pauschal – nicht stimmt. Multiple Sklerose wird statistisch gesehen am häufigsten bei jüngeren Frauen zwischen zwanzig und vierzig diagnostiziert. Primäres Symptom ist häufig eine Sehnerventzündung; Taubheitsgefühle und Kribbeln sind als erstes Zeichen ebenfalls möglich, je nachdem, an welcher Stelle des Gehirns oder Rückenmarks der Entzündungsherd sich befindet.
Eine solch akute Entzündung – ein sogenannter Schub – wird mit hochdosiertem Kortison behandelt, zugleich wird häufig direkt nach der Diagnose der Beginn einer Basistherapie empfohlen – ein Medikament wie etwa die Interferon-Spritzen im Film, das die Anzahl der Schübe reduzieren, oder, wenn es gut läuft, sogar weitgehend verhindern soll. Es ist den großen Fortschritten in der Forschung zu verdanken, dass die MS immer besser zu behandeln ist und Behinderungen somit häufig später und/oder in weniger schwerer Form auftreten.
Und selbst wenn körperliche Einschränkungen bestehen, müssen diese nicht automatisch und in jedem Fall zur Aufgabe des Berufs führen. Das Problem hier ist ein anderes: Während die Gleichung MS = Rollstuhl heute dankenswerterweise nicht mehr so einfach aufgeht, scheint die Gleichung Chronische Erkrankung = Schwäche noch immer in vielen Köpfen festgeschrieben zu sein.
Ein aktuelles Beispiel aus der Politik: Wie am 10. September bekannt wurde, gibt Manuela Schwesig wegen ihrer Brustkrebserkrankung den kommissarischen Parteivorsitz der SPD auf. Thorsten Schäfer-Gümbel beginnt eine Tätigkeit bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, bleibt bis zur Wahl des neuen Vorsitzenden-Duos also lediglich Malu Dreyer – „die wegen ihrer Multiple-Sklerose-Erkrankung ebenfalls gesundheitlich einschränkt ist“, wie die Zeit vermeldet.
Erstens: Eine Krebserkrankung auf die gleiche Stufe einer gesundheitlichen Einschränkung zu stellen wie Multiple Sklerose ist problematisch bis zynisch – MS ist eine schwere und unheilbare Erkrankung, aber nicht vergleichbar mit Krebs.
Zweitens: Warum muss die MS-Erkrankung Dreyers in diesem Kontext überhaupt angeführt werden? Malu Dreyer leidet unter Gehschwierigkeiten. Dass dies kein Hinderungsgrund ist, ganz normal in der Politik, auch auf Bundesebene, tätig zu sein, sollte spätestens Wolfgang Schäuble gezeigt haben (so auch Malu Dreyer selbst im Interview 2018, ebenfalls in der Zeit, wo sie auch auf den vermeintlichen Zusammenhang von MS und Leistungsfähigkeit eingeht).
Allerdings – das Gedankenspiel sei erlaubt, Malu stünde für Manuel Dreyer. Was für ein Mut, was für ein persönliches Opfer für den Dienst an der Partei und der Nation, trotz unheilbarer Krankheit diesen Job noch zu machen! Der Mann zeigt Stärke! – Die Frage, ob gesundheitliche Einschränkungen bei Frauen anders bewertet werden als bei Männern, als Schwäche und potentielle Bedrohung statt als Stärke und Beweis für Aufopferung, sollte also dringend gestellt werden. Und davon ausgehend überlegt werden, inwiefern es eine solche Wertung – in die eine wie in die andere Richtung – überhaupt braucht.
Was es braucht, ist ein bisschen weniger Drama und ein bisschen mehr Differenzierung.
Das Vorliegen einer chronischen Erkrankung wie MS pauschal als Schwäche zu interpretieren, ist fatal. Ein Film wie Balanceakt leistet dieser gedanklichen Gleichung Vorschub: Die MS wird, entgegen der aktuellen medizinischen Wahrscheinlichkeiten, als ein wenige Monate dauernder Prozess in eine starke körperliche Behinderung dargestellt. Diese Behinderung wird von Marie am Ende akzeptiert – was unbedingt richtig und gut ist, allerdings auf so unvermittelte Weise geschieht, dass es, kombiniert mit den genannten kitschigen Elementen, schlicht nicht glaubwürdig ist.
Zudem endet die Auseinandersetzung mit der körperlichen Behinderung nicht etwa in starken Bildern von neu gefundener Aktivität im Rollstuhl, sondern im unglaubwürdigen glücklichen Verzicht auf das einst geliebte Klettern. Dadurch, dass, wie oben erläutert, alle anderen Konflikte nicht auserzählt werden, wird die MS absolut lebensbestimmendes Element.
Der Fokus liegt auf dem, was nicht mehr geht.
Und ja, manches mag mit MS nicht mehr gehen – oder nur anders gehen. Manches mag sogar besser gehen, wie das kreative Lösen von Problemen. Und manches geht eben auch genauso wie vorher, unabhängig von der MS. Das ist undramatisch und eignet sich weder für das Schreiben von Drehbüchern noch für die pauschale Einschätzung der Fitness – in allen Bedeutungen – eines Menschen. Aber es ist eine Erkenntnis, die die Gleichung MS = Schwäche aufbricht. Und das ist eine diskursive Richtungsänderung, die dringend wünschenswert ist.
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Hast du den Film “Balanceakt” im ZDF gesehen? Wie ist deine Meinung dazu, teilst du die kritischen Beobachtungen von Vera oder fandest du den Film realistisch? Lass uns gerne in der Kommentarspalte darüber sprechen!
Danke Vera, für diesen Kommentar. Es ist auf den Punkt genau DAS, was ich bei diesem Film gedacht habe. Dachte schon, ich sehe es alles zu kritisch, weil er von so vielen MS-Betroffenen als „endlich super realistischen Film“ gefeiert wurde.
Hallo Samira. In unserer MS Gruppe wurde sehr viel über den Film gesprochen. Er zeigt viele Facetten der MS die auch nicht Betroffene gut verstehen können. Bei mir im Familienkreis hat es zu vielen Gesprächen geführt über die ich sehr dankbar bin. Natürlich wurde das Krankheitsbild überspitzt gezeigt und auch über die Therapieformen kann man sich streiten. Trotzdem finde ich den Film sehr gelungen.
Danke für dein Feedback Jens! Es ist immer gut wenn das Thema MS in den Medien ist, keine Frage.
Ich finde der Artikel trifft auch sehr gut meine Meinung. Er hat einiges richtig gemacht und gezeigt, dass man als Angehöriger alles auch erstmal verarbeiten und akzeptieren muss und dass das eben auch ein Prozess ist. Aber wie im Artikel beschrieben ist das Bild der MS schon sehr falsch dargestellt – es geht hier überwiegend um sichtbare Symptome und das erschwert finde ich für viele das Verständnis, dass es einem nicht so gut gehen kann, obwohl man davon nix sieht, wie Schmerzen oder extremen Schwindel. Auch dieses plötzliche auftreten der Symptome find ich schlecht gewählt. So denkt doch jeder Arbeitgeber, dass man von jetzt auf gleich nicht mehr gehen kann und unbrauchbar ist.
Hallo,
ich finde den Film soweit ganz gut gemacht.
Ganz klar – es ist ein Spielfilm und mit dieser Erwartungshaltung bin ich da auch rangegangen. In einer sehr begrenzten Zeit muss einem Publikum, das mit dem Thema MS größtenteils noch gar nicht vertraut ist, sowohl ein komplexes Krankheitsbild nähergebracht werden als auch für dramaturgische Spannung / Unterhaltung gesorgt werden. Es ist halt keine Dokumentation. Krimis haben meist ja auch nicht sonderlich viel mit dem tatsächlichen beruflichen Alltag bei der Polizei zu tun. 😉
Von daher finde ich es gut, dass das Thema MS überhaupt mal aufgegriffen wurde – vielleicht bringt das ja auch einen Stein ins Rollen und es setzen sich künftig noch mehr Filme oder vielleicht auch Serien mit der Thematik auseinander. Dann auch sehr gerne mit einem Fokus auf ein Leben mit MS, das eben nicht nur von “Geht nicht mehr”s geprägt ist.
Liebe Grüße
Anne