Plötzlich spielte mein Körper verrückt – ein Bericht über die letzten drei Monate

Ich weiß noch ganz genau, wann es anfing. 

Ich saß auf dem Sofa in unserer Wohnung in Baja California Sur, Mexico. Wir schauten einen Film, es war ein ganz normaler Abend, als plötzlich jemand das Kribbeln in meinem linken Bein anknipste. Es ging einfach so los, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. 

Ich versuchte natürlich, nicht zu sehr darauf zu achten und mich auch nicht verrückt zu machen. Hey, immerhin lebe ich schon seit über 7 Jahren mit MS, und ich habe immer mal wieder Symptomatik, mit der ich leben gelernt habe!

Dennoch war ich etwas beunruhigt. Normalerweise kann ich meine Symptome nämlich ganz genau einer bestimmten Situation zuordnen: Zum Beispiel, wenn ich viel Stress habe. Dann weiß ich ganz genau, dass meine linke Seite sofort anfängt zu kribbeln. Oder wenn ich mich mit jemandem Streite. Wenn auf Instagram mal wieder jemand mir vorwirft, dass ich mich an meiner MS aufgeile (weil MS ja so geil ist, ist klar).

Das sind Momente, da ist eine körperliche Reaktion für mich einfach vorprogrammiert, da weiß ich genau was kommt. Ich habe gelernt, diese Momente weniger werden zu lassen, unter anderem durch viel Psychotherapie, durch das schreiben meiner Bücher und auch durch Gespräche mit meinen liebsten. 

Dieses Mal aber war an dem Tag selbst gar nichts besonderes passiert… das machte mich hellhörig.
Am nächsten Morgen kam ich nicht mehr aus dem Bett. Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich fühlte mein Körper sich an, als hätte mich ein Panzer überrollt. Plötzlich schien mein Körper direkt in den Ausnahmezustand gegangen zu sein, ohne mir wie sonst auch erstmal ein paar Warnungen zu schicken. 

Ich weiß noch genau, dass dieser Tag mein 31. Geburtstag war. 

Wir hatten viel geplant: Erst Sandboarding, also wie Snowboardfahren nur eben in den Sanddünen von San Jose del Cabo. Danach essen gehen. Den Tag einfach genießen. Doch von dem Moment an, an dem ich meine Augen aufschlug, wusste ich dass ich das nicht schaffen würde. Ich druckste noch ein paar Stunden herum, doch dann ließ ich zu, dass mein Freund unsere Aktivitäten für den Tag stornierte. Und blieb im Bett. 

Gefühlt bin ich aus diesem die folgenden drei Monate nicht mehr wirklich aufgestanden… Doch was war los?!

Ich selbst war ziemlich ratlos, warum es mir plötzlich wieder so schlecht ging. Seit etwa drei Jahren fahre ich mit dem Coimbra Protokoll wirklich unglaublich gut, meine MS ist in Remission, ich habe nur wenige wirklich schlechte Tage. Und plötzlich wurde aus einem schlechten Tag eine schlechte Woche, ein schlechter Monat, ein schlechtes Vierteljahr…

Wir waren kurz zuvor nach Mexico umgezogen, weil mein Freund hier einen Job gefunden hatte, und weil wir die Schengen-Zone verlassen mussten. Auch Corona ist kein Grund, länger in Europa zu bleiben als erlaubt ist. Ohne Rücksicht auf alle Gründe drohten hohe Strafen… also mussten wir weiterziehen und landeten hier, an der Pazifikküste Mexikos, und ganze acht Stunden hinter der deutschen Zeit hinterher.

Viele von euch wissen, dass ich mittlerweile nicht mehr nur als Bloggerin und Autorin arbeite, sondern mit meiner Agentur Healthy Content. Sick Ideas. Anderen Menschen mit chronischen Krankheiten dabei helfe, erfolgreich über ihre Krankheit auf Social Media aufzuklären.

Ich berate Unternehmen, plane und konzipiere Kampagnen. Und ich habe natürlich auch noch MS. Und genau diese Workload in Kombi mit einer Krankheit, die dann eben doch nie heilt und weggeht, das wurde mir zum Verhängnis.

Irgendwie war ich ab dem ersten Moment in Mexico aus dem Gleichgewicht geraten. 

Die Meetings um 1 Uhr morgens, um 3 oder 4.30 morgens wurden wegen der Zeitverschiebung immer mehr. Mein Schlafrhythmus wurde immer unregelmäßiger. Mein Kopf platzte vor Aufgaben, vor Dingen die ich plötzlich nicht mehr unter einen Hut zu bekommen schien. Ich habe einen wirklich hohen Anspruch an meine Arbeit… und plötzlich begann ich, Fehler zu machen. Und klar, das ist mal okay, aber es fiel mir doch auf, dass sie sich irgendwie erschreckend häuften. Und das im ersten Jahr meiner Agentur… geht leider nicht.

Jetzt kann man natürlich sagen: Samira, du dumme Nuss du. Du hast doch bestimmt gewusst, dass die Zeitverschiebung so sein wird?

Und ja, das habe ich natürlich, ich dumme Nuss ich. Ich habs gewusst und gedacht, dass ich das packe. Ich hab mich so richtig saftig überschätzt. Ich habe es vielleicht einen Monat ausgehalten, und dann war mit meiner Gesundheit wirklich alles im argen.

Körper
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Normalerweise habe ich die Freiheit, in solchen Momenten schnell zu reagieren und an einen Ort zu gehen, an dem es mir besser geht. Aber momentan ist ja vieles anders. Corona, als erstes. Einfach mal so hierhin und dahin… das möchte ich nicht, das fände ich fahrlässig. So wenig reisen wie möglich momentan, ist klar. Noch dazu kommen mein Freund, der kein Europäer ist, und ich zusammen nur in super wenige Länder rein. 

Außerdem hatte besagter Freund ja hier auch einen Job gefunden. Was während der Pandemie quasi einem Wunder glich. Und er liebte diesen Job, er verdiente Geld. Und während ich immer kränker und unglücklicher wurde, fand er Freunde, genoss seine Zeit und erarbeitete sich schnell ein hohes Ansehen in der Firma. So ist das eben als Paar: Man muss Kompromisse machen. Leider lässt die MS nur ein gewisses Maß an Kompromiss zu. Danach ist Feierabend.

Feierabend war bei mir quasi drei Monate am Stück.

Jeden Morgen, wenn der Wecker um 5.30 klingelte, war ich quasi schon 8 Stunden zu spät zur Arbeit. Jeden Morgen erfasste mich als erstes die Panik: „Habe ich eine wichtige Mail verpasst? Einen Anruf??“. Ich stand mit dem Schrecken in den Gliedern auf, setzte mich direkt an den Laptop und begann zu arbeiten. Nix da mit Morgenroutine. Nichts mit Sport, mit Dankbarkeitspraxis, mit Meditation. Nichts mit Zeit für mich selbst. Und so sehr ich auch dachte, ich halte das durch, meinem Freund zuliebe… so sehr hatte ich mich getäuscht. 

Nach Hilfe suchend machte ich Blutwerte, die dann auch bestätigten was ich vermutet hatte: Der eine Blutwert, der anzeigt wie gut meine Therapie anschlägt, war mehr als im argen.

pic by Karolina Grabowska via pexels.com

Alarmstufe rot also nicht nur gefühlt, sondern jetzt auch schwarz auf weiß. Dazu stellte sich heraus, dass ich eine Schilddrüsenunterfunktion entwickelt hatte. Meine depressiven Verstimmungen, meine tägliche bleierne Erschöpfung, meine Antriebslosigkeit und dieses ständige frieren… alles hatte plötzlich einen Doppelnamen: MS-Schilddrüsenunterfunktion. Wie hübsch. 

Scheisse ey.

Allerlei Ratschlägen meines Protokollatztes folgend begann ich also, Medikamente für die Schilddrüse einzunehmen. Zusätzliche Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen. Noch mehr Blutwerte zu machen. Noch mehr Eiweiss zu essen. All das schlug sich vor allem auch auf meinem Konto nieder: Im Januar hatte ich knapp 600€ für meine Gesundheit ausgegeben. Einfach mal so nebenbei. Und da die MS ja mein Privatvergnügen ist, zumindest seit ich das Coimbra Protokoll mache, konnte mir da auch keine Krankenversicherung helfen. 

Mein Arzt sagte mir auch ganz deutlich, dass es nicht an einer Unterversorgung mit Vitamin D lag, dass es mir so schlecht ging. Es lag wirklich einzig und allen an dem Stress, den ich mir machte und dem ich ausgesetzt war. Leute… STRESS ISTR GIFT. Ich hab das mehr als deutlich gespürt.

Ich musste also einiges ändern, Energie sparen… und so hörte ich auf, ein Leben zu haben. Ich lag nur noch im Bett, wenn ich nicht am Laptop saß und arbeite. Wenn ich es an manchen Tagen nicht schaffte, aufzustehen, dann nahm ich den Laptop mit ins Bett und arbeitete von da aus.

Arbeiten, essen, schlafen, frieren. So sah mein Alltag aus. Ich war nur noch ein Schatten meiner selbst. Ich hatte riesige Augenringe, war blaß wie ein Geist. Musste immer wieder Verabredungen absagen. Hatte schon seit Wochen keinen Sport mehr gemacht. Alles war grau und schwarz und schrecklich. 

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Es musste sich etwas ändern. Und zwar schnell.

Auch mein Partner spürte natürlich nicht zu knapp, dass Emir wirklich schrecklich ging. Und nach drei Monaten beschlossen wir endlich, die Zelte abzubrechen. Während er in Mexico großen Erfolg gehabt hatte und die Stadt mochte, hatte ich den Kampf gegen die Zeitzone verloren. Mein Körper und ich waren gemeinsam gescheitert. Und so beschlossen wir endlich, das einzige zu tun, was wir schon so lange tun wollten: Die Rückkehr nach Thailand. Auf „unsere“ Insel, auf der wir uns kennen gelernt hatten. In unser zu Hause des Herzens. 

Sobald der Entschluss gefasst war, begannen wir mit der langwierigen Prozedur: Visa, Quarantäne, ein Haufen Tests und Nachweise dass wir gesund sind. Doch am Ende des Tunnels leuchtete endlich ein Licht, ein Licht so grün wie die Palmen und so türkis wie das Meer. Ich wusste: ich habe es bald geschafft. Bald kann ich wieder atmen. Natürlich trug auch dazu bei, dass die Schilddrüsenmedikamente endlich anzuschlagen schienen und meine Stimmung sich wieder hob.

Und nun?

Nun sitze ich hier in meinem Hotel in Pattaya, Thailand. Wir haben es geschafft. Noch 10 Tage Quarantäne… doch ich habe es nicht eilig. Ich genieße jeden Tag, an dem ich ohne Wecker aufstehen kann. Yoga machen kann. Meditieren kann. Frühstücken kann… und dann immernoch alle Zeit der Welt habe, um meine Arbeit in meinem Tempo und nach meinen Ansprüchen an mich selbst zu erledigen. Leute… Ich kann euch gar nicht beschrieben, wie unendlich dankbar und glücklich ich bin.

Genau so stelle ich mir meinen Morgen vor – auch wenn die Möbel in Plastik eingepackt sind 😀

Und was lernen wir daraus? Mal wieder vor allem eines: Wir sollten nicht nur, ja wir MÜSSEN auf unsere Körper hören. Und wenn es irgendwie geht, dann am besten bevor er komplett kapituliert. 

Vielleicht schaffe ich es ja beim nächsten Mal. Bestimmt schaffe ich das beim nächsten Mal. Ich hoffe, du lernst aus meinen Fehlern… damit wir gemeinsam an ihnen wachsen können.

***
Wie ist das bei dir, schaffst du es auf deinen Körper zu hören? Erzähl mir, wie du es anstellst, ich freue mich von dir zu lesen!

Mindful mit MS
Yoga mit MS

5 comments

  1. Hallo Samira ich bin sehr beeindruckt wie offen du über all das schreiben kannst… ich selbst stecke in einer kriese fest… tagsüber funktioniere ich und abends genieße ich die Ruhe wenn es Zeit ist ins Bett zu gehen döse ich vor dem Fernseher ein möchte dann indes Bett gehen doch entweder bin ich wie gelähmt oder ich bin wach und drehe mich von einer Seite auf die andere… es ist viel los in mir…
    Schön das es deinen block und so Menschen wie dich gibt… Gruß Nadine

    1. Liebe Nadine, vielleicht wäre es eine Idee, den Fernseher einmal abends nicht anzumachen und stattdessen zu lesen, ein Bad zu nehmen, ein Hörbuch zu hören?

      Das Licht vom Fernseher – auch das von Laptop und Handy – sorgt nachweislich dafür, dass wir schlechter schlafen. Vielleicht magst du es ja mal ausprobieren, nur einen oder zwei Abende.

      So genannten Nerventee gibts bei DM, davon trinke ich gerne eine oder zwei Tassen wenn ich abends zu aufgewühlt bin.
      Liebe Grüße,
      Samira

  2. Hi Samira,
    tut mir leid zu hören, dass ihr eure Pläne “deinetwegen” ändern musstet. Ich versteh das nur zu gut – man fühlt sich einfach schlecht deswegen…
    MS-Schilddrüsenunterfunktion willkommen im Club 😉

  3. Hey Samira,
    wie kommt es, dass du in Thailand besser arbeiten kannst als in Mexico?
    Ich selbst befinde mich gerade an einem Tiefpunkt. Zu viel schlechte Dinge passieren an denen ich wirklich nichts positives finden kann.
    Ich befinde mich in einer Umschulung und struggle gerade mit Angst vor Covid Folgen. Noch mehr Fatique, Konzentrationsstörungen oder Schmerzen würde ich nicht packen. Leider stoße ich auf Unverständnis und eine Egal Haltung meines Arbeitgebers. Weiß grad einfach nicht weiter…

    1. liebe Kate, ersteinmal tut es mir sehr leid zu hören, dass es dir momentan so schlecht geht. Ich kann das sehr gut verstehen – die Situation ist mit COVID schon anstrengend genug, kommt dann noch eine MS hinzu… ja, dann ist es wirklich manchmal nicht mehr erträglich. Ich wünsche Dur viel Kraft zum Durchhalten, denn ich weiß ganz genau und tief in mir drin, dass auch wieder bessere Zeiten kommen. Aber ja: Es ist eben manchmal einfach auch nur alles sch****. Auch das darf und muss leider sein.

      Ich kann in Thailand so viel besser arbeiten, weil die Zeitverschiebung mir hier in die Hände spielt und ich Deutschland um einige Stunden voraus bin. Das erleichtert meine Arbeit wirklich ungemein.
      Liebe grüße,
      Samira

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